Die Adventskerze

ChristbaumkugelEs war Vorweihnachtszeit und bei vielen Menschen Tradition, ein Adventsgesteck oder einen Adventskranz zuhause aufzustellen.
Die, die es schlicht mochten, nahmen dafür eine dicke Kerze und legten etwas Tannengrün und ein paar Beeren des Waldes drumherum. Andere verzierten ihre Gestecke viel großzügiger und man sah große, wunderschöne Schleifen und Sterne, die beim Anzünden der Kerzen glitzerten und funkelten.

Immer häufiger lösten heute moderne LED-Kerzen die normalen und herkömmlichen Kerzen aus Wachs ab. Bei den LED-Kerzen gab es nur einen kleinen Schalter und schon brannte ein kleines künstliches Licht.

Es war der erste Adventssonntag.
Der Frühstückstisch war schön gedeckt und frische Brötchen standen auf dem Tisch. Ein wunderschöner Adventskranz aus duftendem Tannengrün mit vier dicken roten Kerzen und Schleifen stand genau in der Mitte des Tisches, wo sonst immer Butter, Aufschnitt und Marmelade standen.
Ein kleines rotes Deckchen mit aufgestickten goldenen Schleifen lag unter dem Adventskranz. Das diente nicht nur der Zierde, sondern man wusste ja nie, ob nicht doch mal etwas Wachs tropfte, oder die Tannennadeln zu schnell vertrockneten und anfingen zu rieseln.

Meine Mutter hatte mich und meinen Bruder geweckt. Mein Bruder, etwas älter als ich, guckte wie immer am Morgen völlig verschlafen in die Welt. Eigentlich hatte er weder Lust aufzustehen, noch gute Laune zu zeigen. Er war ein Morgenmuffel, der nach dem Aufstehen möglichst seine Ruhe haben wollte.

Ich, ein sechsjähriges Mädchen mit schulterlangen mittelbraunen Haaren dagegen war wach und innerhalb von Millisekunden ganz da und voller Tatendrang.
Es war doch Advent und heute durfte die erste Kerze angezündet werden. Schnell lief ich ins Bad, mehr als Katzenwäsche würde es heute aber nicht geben, und sprang die Treppe herunter, immer 2 Stufen auf einmal. Wie gut, dass mich keiner sah, denn spätestens das würde Ärger geben. Man hüpfte nicht die Treppe herunter, auch wenn die Haare dabei noch so schön wippten, man ging vorsichtig und das Stufe für Stufe.
Einer Sechsjährigen fiel das aber auch immer erst dann wieder ein, wenn sie unten angekommen war.

Ich lief in die Küche.
Eigentlich und an normalen Sonntagen wurde hier der Frühstückstisch gedeckt.
Es gab viele viele normale Sonntage, aber nur ganz wenige besondere Sonntage.
Bei einem Geburtstag, oder auf Ostern, das waren so besondere Sonntage, frühstückten wir im Esszimmer.
Allein daran, ob jetzt in der Küche oder im Esszimmer gefrühstückt wurde, konnte ich schon merken, ob ein besonderer Sonntag war, falls ich es vergessen hatte.
Heute war der Küchentisch leer.
Ich öffnete also die Tür zum Esszimmer und fand den ersten Adventsfrühstückstisch in diesem Jahr vor, was schon wieder etwas Besonderes war.
Ich war ja erst sechs und an so viele Adventsfrühstückstische in meinem Leben konnte ich mich noch nicht erinnern.

Meinen Platz, ich saß immer rechts von Papa, hatte ich schnell gefunden. Jeder wusste wo er hin sollte, was man an den unterschiedlichen Frühstücksbrettchen ausmachen konnte. Mein Bruder saß mir gegenüber und neben meiner Mutter. Wer diese Ordnung mal eingeführt hatte weiß ich nicht, aber wir fühlten uns wohl dabei. Wir Kinder hatten Brettchen mit Sesamstraßen-Motiven. Mein Bruder hatte Bert und ich Ernie. Die Erwachsenenbrettchen waren schlicht kariert, eins in rosa für Mama und eins in blau für Papa. Heute, zur Feier des Tages, standen für die Erwachsenen aber Teller aus Porzellan bereit.
Mein Ernie-Brettchen fand ich toll. Ich mochte den Ernie, der immer so witzig kicherte. Bert war oft so ernst und verdrehte die Augen, wenn Ernie Blödsinn gemacht hatte. Der passte viel besser zu meinem Bruder, der mir gegenüber auch öfters die Augen verdrehte, wenn ich etwas ausgeheckt hatte.
So setzte ich mich an meinen Platz und wartete da drauf, dass auch der Rest der Familie an den vorweihnachtlich gedeckten Tisch mit dem schönen Adventskranz und den extra dazu gelegten Weihnachtsservietten kam.
Mama holte noch kurz den heißen Kakao für uns Kinder und endlich waren wir alle beisammen.
Mama griff in ihre Schürze, die sie immer trug, wenn sie in der Küche gewerkelt hatte und beförderte ein kleines Streichholzkästchen aus einer der Taschen heraus.
Dieses kleine Streichholzkästchen wurden gehütet wie ein Augapfel.

Mein Vater hatte schon oft zu uns gesagt, wie gefährlich Feuer in Kinderhänden ist und dass es auch immer wieder Unfälle mit Bränden gegeben hatte. Heimlich und vor lauter Neugierde hatten die Kinder ein Streichholz angezündet und vor Schreck vor den zündelnden Flammen das Stäbchen fallen gelassen .

“Messer, Gabel, Schere, Licht taugt für Kinderhände nicht”. Dieser Spruch kam dann immer an der Stelle, wenn meine Mutter oder mein Vater das Streichholzkästchen zur Hand nahmen und an der ernsten Stimme und dem Blick, der uns dann festhielt, merkten wir Kinder, wie wichtig ihnen das war, dass wir Kinder verstanden, dass Feuer kein Spielzeug ist.

Mit großen Augen schaute ich zu meiner Mutter, die das Streichholzschächtelchen meinem Vater übergab. Der wiederum öffnete es, hielt kurz ein, drehte sich zu mir und sagte: “Willst du es heute mal versuchen?”

Auweia!
Ich, die Mutige, die gerade noch 2 Stufen auf einmal die Treppe runter gehüpft war, wurde ganz still. Ich schaute meinen Vater mit großen ängstlichen Augen an.
Mein Vater, der genau merkte, wie unsicher ich war, strich mir mit seiner warmen Hand über die Wange und sagte: “Du musst keine Angst haben, ich bin ja hier und helfe dir!”

Vorsichtig zog er die kleine graue Schachtel aus dem Streichholzkästchen, in dem sich die Hölzchen mit den roten Schwefelköpfen befanden und hielt es mir entgegen.
Noch zögernd griff ich hinein und nahm eines der kleinen Hölzchen heraus. Ich hielt mir das Hölzchen noch einmal vor die Augen, um es genau anzuschauen. So aus der Nähe hatte ich es vorher ja nie betrachten können. Eigentlich sah es ziemlich ungefährlich aus, aber ich wusste ja auch, dass es erst dann, wenn es brannte, gefährlich war.
Mein Vater hielt mir die Streichholzschachtel entgegen. “Da, an den Seiten, da musst du entlang streichen, damit es brennt und fass schön weit hinten an, sonst wird es schnell heiß an den Fingern.”
Schnell schaute ich noch zu meiner Mutter und zu meinem Bruder rüber, die mich freundlich anlächelten.
Mit einem “Ratsch” ließ ich das Hölzchen über die Zündfläche gleiten und mit einem kurzen Knistern erschien eine große Flamme, die zuerst blau aufleuchtete und dann ein klein wenig in sich zusammensackte, um dann in einem tiefen gelb weiter zu brennen.
Was ich noch nie vorher bemerkt hatte, es gab einen kleinen dunklen Tropfen in der Flamme, die sich nun vor meinen Augen ganz leicht bewegte.
“Aus!”
Mein Vater hatte das Streichholz ausgepustet. In meiner Faszination um die Flamme hatte ich gar nicht bemerkt, wie weit das Streichholz schon runtergebrannt war und hätte er nicht gepustet, hätte ich mir die Finger verbrannt.
Auf was man auch alles achten musste, wenn man so ein Streichholz entzündet.
“Wir nehmen noch eins und dann zündest du die erste Kerze an”, sagte er mein Vater zu mir.
Und so strich ich wieder mit einem neuen Zündhölzchen über das Kästchen und ganz vorsichtig, damit auch ja die Flamme nicht aus ging, zündete ich die erste der vier dicken roten Kerzen an.
Der lange Docht flackerte ein wenig, als die Kerze Feuer nahm, um dann in ein ruhiges warmes Licht überzugehen. Dieses Mal pustete ich selbst das Streichhölzchen aus.
Die Kerze tauchte das Esszimmer in ein warmes helles Licht, doch das Strahlen in meinem Gesicht über den Erfolg und sie anzünden zu dürfen, war heller.
Sogar mein Bruder, der ja eigentlich morgens eher muffelig war, freute sich mit mir.

Und so sah man vor vielen Jahren ein kleines sechsjähriges Mädchen behütet und noch lange im Kreis ihrer Familie am Adventsfrühstückstisch sitzen und eine dicke rote Kerze beobachten.
Ein klein wenig erwachsener war sie heute geworden und sie hatte Verantwortung übernehmen dürfen. Die Wärme und das Gefühl von Behaglichkeit, welches diese besondere Adventskerze, die sie hatte anzünden dürfen, verströmt hatte, nahm sie mit als Erinnerung in ihr Erwachsenenleben und auch heute, nach vielen Jahren, roch sie immer noch gerne den Schwefelduft des Hölzchens, der die erste dicke rote Adventswachskerze knisternd zum Brennen brachte.

A. Schmiemann